Cover
Titel
Der Karabiner von Stalin. Ein sowjetisches Leben zwischen Bürgerkrieg, Konzentrationslager und Gulag


Autor(en)
Kaltenbrunner, Matthias
Erschienen
Frankfurt am Main 2023: Campus Verlag
Anzahl Seiten
529 S.
Preis
€ 59,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dietrich Beyrau, Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde, Universität Tübingen

Matthias Kaltenbrunner, derzeit am Forschungsinstitut für die Geschichte der Transformationen (RECET) an der Universität Wien tätig, hat eine aufwendig recherchierte Biografie des sowjetischen Offiziers Nikolaj D. Novodarov (1907–1987) verfasst. Dafür hat er Archive und Privatsammlungen in Russland, Deutschland und Österreich konsultiert und viele Interviews mit Verwandten, Bekannten und Leidensgenossen beziehungsweise ihren Nachfahren geführt. Diese Biographie liefert ein anschauliches Beispiel für die Turbulenzen, Chancen und Gefährdungen, welche Politik und Kriege in den ersten zwei Dritteln des 20. Jahrhunderts bereithielten. Hier geht es um die Strategien eines sowjetischen Überlebenskünstlers.

Novodarov wurde 1907 in Kamenskaja, heute Kamensk-Šachtinskij, im Dongebiet geboren und wuchs in bescheidenen Verhältnissen auf. Als Kindersoldat nahm er 1918 auf „roter“ Seite am Bürgerkrieg teil. 1925 trat er in die Rote Armee ein, 1929 in die Kommunistische Partei, seit 1932 studierte er an der Frunze-Militärakademie, 1935 heiratete er Frida Kaplun, eine Frau jüdischer Herkunft. Von 1936 bis 1939 war er Instrukteur in der Mongolei, dann folgte seine Ernennung in den Generalstab der mongolischen Volksarmee. Vom Oktober 1939 bis Juni 1941 kam er als Besatzungsoffizier im ostpolnischen Łomża und in Grajewo zum Einsatz. Seine Frau mit ihren zwei Töchtern konnte nach dem deutschen Angriff rechtzeitig evakuiert werden, während er in Gefangenschaft geriet. Stationen seiner Gefangenschaft waren das Kriegsgefangenenlager Hammelburg und das Konzentrationslager Flossenbürg, die er als Funktionshäftling überlebte. Auf dem Todesmarsch im April 1945 konnte er entfliehen. Er fand Aufnahme in einer US-Panzerdivision und war beteiligt an der Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen. Im Mai 1945 kehrte er zurück zur Roten Armee. Er wurde „filtriert“, und im Sommer 1945 als Oberstleutnant in eine Garnisonsstadt bei Moskau entlassen. Am 19. Dezember 1946 wurde er verhaftet, wegen Landesverrat nach Art. 58/1b angeklagt und zu acht Jahren Haft verurteilt, die er zunächst im Sevpečlag (Lagerzone Pečora) verbrachte. In Erwartung eines Dritten Weltkrieges gründete er heimlich eine Republikanisch-Demokratische Partei Russlands mit geplanten Appellen an Truman und einem Reformprogramm in einem befreiten Russland. Die Verschwörung wurde aufgedeckt. Das Lagergericht verurteilte ihn im Juni 1949 zusammen mit seinem wichtigsten Mitverschwörer Bachis Mechtiev, einem Aserbaidschaner, zu 25 Jahren Haft. Der Verurteilung folgte eine Odyssee durch verschiedene Lager. Novodarov und Mechtiev wurden 1956 entlassen und dank Protektion auch bald rehabilitiert, während die weniger belasteten Mitverschwörer jahrelang um ihre Rehabilitierung – manche vergeblich – kämpfen mussten.

Wegen der langen Trennung hatte sich die Familie entfremdet, sodass die Ehe im Januar 1957 geschieden wurde. Bereits im Februar heiratete Novodarov wieder und verbrachte zuerst in Charkiv und dann in Krasnodar ein aktives und vergleichsweise komfortables Leben als Oberstleutnant im Ruhestand mit seiner neuen Ehefrau Valentina Lumina und der adoptierten Tochter, bis er im Jahr 1987 verstarb.

Dieser Abriss der wichtigsten Lebensstationen Novodarovs ist deshalb notwendig, weil es besonders in den ersten Teilen des Buches oft nicht ganz einfach ist, der Darstellung zu folgen. Die Methode Kaltenbrunners, den Lebensweg des Protagonisten zu rekonstruieren, besteht darin, sich einerseits auf Dokumente, Zeugnisse und Aussagen von und über Novodarov zu stützen, andererseits aber diese „faktualen“ Daten mit den „fiktionalen und klandestinen“ Selbstzeugnissen der als Roman konzipierten Autobiografie Novodarovs (in drei Bänden) abzugleichen. Der Roman konnte wegen der Verschwörung im Sevpečlag zu Sowjetzeiten nicht publiziert werden. Trotz der Hilfe einer Journalistin, die sich für in Deutschland kriegsgefangene Rotarmisten einsetzte, war er literarisch wohl nicht sehr gelungen. Kaltenbrunner dient diese Autofiktion, in der sich Novodarov als Dimka Stepnov („Steppenmensch“) bezeichnet, dazu, zentrale Charakter- und Identitätsmerkmale dieses Überlebenskünstlers zu rekonstruieren. Seine Erfahrungen als Kindersoldat und seine bis 1941 erfolgreiche Karriere als Berufssoldat und Kavallerist blieben ein „identitätsstiftendes Alleinstellungsmerkmal“ (S. 67), verbunden mit einer Besessenheit von allem Militärischen (S. 462) und einer „sowjetischen Kämpfermentalität“ (S. 14), mit einem rabiaten Ordnungsfetischismus (S.430), einem „atavistische[n] Rechtsverständnis“ (S. 459) und einem „patriarchalischen Männlichkeitsideal“ (S. 457). Novodarov sei also ein Militarist gewesen, wie er im Buche steht. Emotionen habe er nur gegenüber Pferden ausleben können.

Zu Sowjetzeiten konnte Kriegsgefangenschaft in der Öffentlichkeit nur in der Form präsentiert und gerechtfertigt werden, dass sie mit Widerstand gegen die NS-Herrschaft verbunden war. Dieser Lesart konnte auch Novodarov insofern gerecht werden, als es ihm als Funktionshäftling sowohl in Hammelburg und Flossenbürg (als auch im Gulag) gelungen war, Positionen zu erlangen, die gewisse Aktionsspielräume eröffneten und damit widerständische Handlungen ermöglichten. Dies schloss im Kriegsgefangenenlager wie im Konzentrationslager nicht Konflikte mit anderen Kriegsgefangenen aus, zuvörderst mit jenen, die sich gegen das Stalinregime positionierten oder um Positionen konkurrierten. Als Funktionshäftling war er zudem immer dem Verdacht der Kollaboration ausgesetzt. So verdankte Novodarov seine Verurteilung 1947 als „Verräter“ den Aussagen von mitgefangenen Kriegskameraden. Einer dieser Denunzianten konnte sogar – im Unterschied zu Novodarov – eine prominente Stellung im sowjetischen Veteranenverband erklimmen. Die Aufdeckung der Verschwörung 1949 im Sevpečlag war dagegen zwei Spitzeln geschuldet, und die Verurteilung basierte in diesem Fall auf Geständnissen.

Kaltenbrunner betont zwei Brüche in dem mentalen Profil Novodarovs: seine kurzzeitigen Aktivitäten in der US-Armee und die Befreiung von Mauthausen. In der US-Armee erlebte er ganz andere Verhaltensweisen von Militärs, als er sie in der Roten Armee kannte. Diese befreiende Erfahrung schlug sich auch in der Verschwörung 1948/49 im Gulag wieder, als er im Briefentwurf an Truman ein eher libertäres Programm für ein befreites Russland entwarf. Im Zuge des Tauwetters nach seiner Entlassung bediente er sich wieder der aktuellen sowjetischen Rhetorik – jetzt sei Geheimdienstchef Berija der Bösewicht, der das an sich „gute“ System missbraucht hätte. In der Zeit Andropovs und der beginnenden Perestrojka bekannte er sich zu Reformen, allerdings für einen rabiaten Kampf gegen Korruption, der alle legalen Barrieren hinter sich ließ. Und die heute noch verbreitete „dedovščina“, die Repression junger Rekruten durch ältere Soldaten und Offiziere, sei ein hinzunehmendes Faktum, gegen das es sich durch sportliches Training zu rüsten gelte – so seine Empfehlung an seinen Enkel.

Novodarovs Roman ist als Versuch anzusehen, sich trotz oder vielleicht sogar wegen seiner Gefangenschaft in Deutschland und im sowjetischen Gulag in die obligatorischen Heldennarrative der Nachkriegszeit einzuschreiben. Das ist ihm gründlich misslungen. Dies zeigte sich auch in den Auseinandersetzungen um die Erinnerungsfeiern in Flossenbürg 1978 und Mauthausen 1985. Es waren seine Gegner, die eingeladen wurden und sich als Widerstandshelden feiern ließen. Novodarov hingegen wurden Auslandsreisen nicht genehmigt.

Großen Wert legt Kaltenbrunner auf die Familiengeschichte des Protagonisten und seine Ehe. Die lange Trennung führte zur Entfremdung von seiner Frau und den Töchtern, die im Krieg nach Mittelasien evakuiert worden waren und sich nach dem Krieg äußerst bescheiden in Moskau einrichten mussten. Trotz Briefwechsel und Paketsendungen, nach 1953 auch Besuchen seiner Ehefrau, gab es Spannungen: Die Töchter wurden von der Schwiegermutter erzogen, welche die Verurteilung Novodarovs für gerechtfertigt hielt: „Wenn er sitzt, gibt es einen Grund dafür“ (S. 398). Einer seiner Brüder, auch ein Offizier, hatte sich von ihm losgesagt. Nach der Rückkehr war auch das Verhältnis zu den Töchtern gespannt. Sein autoritäres Gehabe ertrugen sie kaum. Die Enttäuschung und Wut über Frida Kaplun entluden sich in dem autofiktionalen Roman in einer „fratzenhaften Darstellung seiner Frau“ (S. 409), die antisemitische Untertöne trug.

Was bringt die Autobiografie einer nicht-prominenten Persönlichkeit? Gibt sie neue Einblicke in bereits vielfach erforschte historische Felder? Über das sowjetische Militär, die Kriegsgefangenschaft und den Gulag wird man nichts Neues und Überraschendes erwarten dürfen. Aber abgesehen von den bewundernswerten, geradezu detektivischen Recherchen, die Kaltenbrunner bewerkstelligt hat, gelingt es durch die Gegenüberstellung „fiktionaler“ und „faktueller“ Sichtweisen auf die Person, wichtige Aspekte von Erfahrungen im dramatischen Wechsel der Verhältnisse – Verhaltensweisen und Selbstdeutungen – zu veranschaulichen, ohne sich im Opfernarrativ zu ergehen.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension